Reboot II

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"Das spannende war, dass es uns nicht darum ging, die ursprünglichen Aufnahmen oder Arrangements, oder unsere eigenen Visionen umzusetzen. Wir gaben ihnen die Freiheit, unsere Songs mit ihren eigenen künstlerischen Visionen aufzunehmen." (Ronnie Dunn [Brooks & Dunn] / billboard.com, 16. September 2024)

Songs für Sankt John

"Lange bevor ein Boot im Hafen vor Anker ging,
lange bevor der Klang von Steel Drums zu hören war,
hob Gott diese Inseln aus dem Ozean.
Jahrhundertelang lagen sie so sicher da."
(Song for the Saints / Kenny Chesney, Tom Douglas, Scooter Carusoe)

Wenn man das schmale Büchlein, das der physischen CD beiliegt, öffnet, blickt man auf türkisblaues Meer und einen breiten Sandstrand. Und einen verwüsteten Küstenstrich, auf dem die Bestandteile der bunten Hütten, deren ursprünglicher Standort kaum mehr auszumachen ist, wie Streichhölzer zerschmettert von ungeheurer Kraft und achtlos zerstreut. Es scheint, als wären es die ersten Sonnenstrahlen, die die Zerstörung durch Hurricane Irma so bitter aus dem Dunkel der Sturmnächte ans Licht holten.

Im September 2017 traf der Kategorie 5 Hurrikane Irma mit voller Wucht auf die karibischen Inseln vor dem Golf von Mexiko. Schwere Verwüstungen wurden unter anderem von der Jungfern-Insel St. John gemeldet, auf der Kenny Chesney seit 20 Jahren ein zweites Zuhause gefunden hat. Dieses Unglück traf nicht nur sein dortiges Anwesen, sondern den Künstler selbst tief ins Herz.

"Ich habe einen Großteil meines Lebens an diesen Stränden verbracht, beim Schreiben von Songs in den Bars dort. Und plötzlich ist dieser wunderschöne Ort zerbrochen", beschrieb Kenny Chesney seine Gefühle gegenüber der Associated Press. Obwohl er zum Zeitpunkt des Sturmes nicht auf der Insel war, war er es in Gedanken und Emotionen. Erst nach einigen Tagen konnte das ganze Ausmaß der Zerstörung festgestellt werden. Eine Zeit des hilflosen Wartens. Auch auf Nachricht von den Menschen, die in seinem Anwesen Schutz gesucht hatten. Ein Zeit, die er zu überbrücken suchte, indem er an neuer Musik zu arbeiten begann.

"Ich wachte jeden Morgen auf, ging in das Studio und arbeitete an diesem Album. Ich habe noch nie ein Album gemacht, das so sehr in diesem Moment war und ich denke, man kann die Angst und Anspannung hören." Aber er zog sich nicht nur einfach in seine musikalische Welt zurück, sondern er half persönlich mit seinem Team beim Einfliegen von Hilfsmaterial und beim Ausfliegen von Menschen. Außerdem gründete er eine Stiftung ("Love for Love City", benannt nach dem Spitznamen für die Insel St. John: Love City), mit dem Ziel, beim Wiederaufbau zu unterstützen. Ihr fließen auch alle Einnahmen zu, die das eben veröffentlichte Album abwirft.

'Song for the Saints' war das erste Lied, das so für das Album entstanden war. Es war dasjenige, das er unmittelbar nach dem Sturm gemeinsam mit den beiden angesehenen Songschreibern Tom Douglas und Scooter Carusoe geschrieben hatte. Es ist ein Lied, das der zerbrochenen Insel und seinen Menschen mit der Hoffnung Respekt zollt, dass sie nie aufgeben mögen, denn "all das Zerbrochene wird heilen und die Schwachen werden wieder stark sein".

Es bildet das Thema für ein Konzept-Album und gleichzeitig den Titel dafür. Ein Projekt für die Menschen auf den Virgin Islands. Inseln, die Christoph Kolumbus auf seiner 2. Fahrt "Sankt Ursula und die elftausend Jungfrauen" benannt hatte. 3 zentrale Inseln darunter gehören zu US-Amerikanischem Staatsgebiet (Puerto Rico), nämlich die Saints: St. Thomas, St. Croix und St. John.

Angst und Anspannung haben auf dem Album kaum Spuren hinterlassen. Dafür ist es ruhig und nachdenklich, was Kenny Chesney gemeinsam mit seinem langjährigen Produzenten Buddy Cannon hier geschaffen haben. Schon das Cover-Bild repräsentiert das Projekt sehr gelungen. Unverkennbar geht es um den Ozean, Boote und Inseln, aber der Himmel ist grau und hat seinen strahlenden Glanz verloren.

'Love for Love City' ist nicht nur der Titel der angesprochenen Stiftung, sondern auch der Kern des Albums. Nicht nur oder nicht so sehr, weil Kenny Chesney darauf gemeinsam mit  Reggae-Legende Ziggy Marley zu hören ist, sondern weil er davon erzählt, was dieses Projekt so wichtig macht:
"All diese Menschen sind auch meine Leute,
jede Hautfarbe, jede Rasse,
gemeinsam in guten Zeiten,
gemeinsam in Zeiten der Not.

Ich liebe Love City [St. John].

Nein, ich war nicht da, auf der Insel,
in der Nacht als die [Steel] Drums verstummten.
Aber so sehr ich mein Leben an ihren Stränden gelebt habe,
so sehr werde ich danach für sie da sein."

Manchmal kann sogar Reggae ruhig und nachdenklich sein.



Mit 'Every Heart', das Shane McAnally und Josh Osborne geschrieben haben, gelingt es die Ungewissheit im Leben nicht nur in Metaphern rund um den Ozean, sondern auch noch in einer wundervollen Melodie aufgehen zu lassen und damit Mut zu machen. Auch wenn wir oft nicht mehr können, als die Flaschenpost ins Wasser zu werfen und auf Rettung zu hoffen.

Unerwartete Percussion treibt das ätherische 'Ends of the Earth' dorthin, wo die Reise ans Ende der Welt zu einer berückenden Analogie über das Leben wird. Darüber, dass nichts gewiss ist und dass man es nicht versäumen sollte, auch auf die Gefahr hin, es nicht zu überleben. Ein Weg, den man letztendlich alleine beschreiten muß.
"Wofür ist das Leben gut, das einem gegeben wurde,
wenn man immer nur an einem Fleck verharrt?
Ich bin auf diesem endlosen Fluss,
solange bis ich ans Ziel gelange.
Vielleicht bringt er mich nur ans Lebensende,
aber ich will es nicht versäumen.
Es scheint ich gehe alleine."

Szenen aus Galveston, Texas, einem Ort am Golf von Mexiko, der wiederholt den Unbillen des Ozeans ausgesetzt war, beschreibt 'Gulf Moon'. Im typischen Kenny Chesney - Stil sinniert 'Island Rain' über das Leben, das oft unvorhergesehen und unaufhaltsam wie ein Regenschauer über einen hinwegprasselt. Und wenn wir darüber nachdenken, dann sind wir genauso wenig rational, sondern vielmehr einfach nur ein wenig verrückt. Aber damit sind wir nicht alleine, wie es Kenny Chesney in 'We're All Here' beschreibt, das aus der gemeinsamen Feder mit David Lee Murphy und Casey Beathard entstanden ist.

Mit keinem anderen Künstler wird Kenny Chesney mehr verglichen als mit Jimmy Buffett. So verwundert es nicht sehr, dass die beiden einen Jimmy Buffett - Klassiker aus dem Jahr 1974 und dem 4. Album von Jimmy Buffett covern. 'Trying to Reason with Hurricane Season' ist ein passender Lied-Titel für das Album, auch wenn das Lied inhaltlich mehr vom Kater-danach handelt und man der Stimme von Jimmy Buffett anhört, dass er inzwischen auf die 72 zugeht. Trotzdem passt der Song stimmungsmäßig auf das Album.



Und obwohl der kommerzielle Erfolg für das Projekt nur aus Gründen der finanziellen Hilfe für St. John eine Rolle spielt, kann das Album bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens einen Nummer-1 Hit vorweisen. Es ist bereits der 30. für Kenny Chesney und bringt damit ein wenig von der Atmosphöre des Albums sogar ins Stadion, wenn das Publikum gemeinsam mit ihm 'Get Along' singt.

Mit einem ganz besonderen Highlight schließt das Album. 'Better Boat' bleibt dem Thema treu, ist aber eine gelungene Metapher auf schwere Zeiten im Leben und darauf, aus ihnen zu lernen. Nämlich um beim nächsten Mal mit einem stärkeren Boot besser gegen die Stürme des Lebens gewappnet zu sein.

Liz Rose hat den Song gemeinsam mit Travis Meadows geschrieben, der ihn bereits in einer eindrucksvollen Version auf seinem fantastischen Album "First Cigarette" 2017 veröffentlicht hatte. Stimmlich lässt sich Kenny Chesney auf dem Song von der Singer-Songwriterin Mindy Smith begleiten, was dem Lied einen zusätzlichen Touch von Einfühlsamkeit gibt.

"Wenn man überlegt, wievielen Menschen ich damit helfen kann und wievielen es emotional helfen kann, dann ist dieses Album vielleicht das wichtigste meiner Karierre", sagt Kenny Chesney nicht zu unrecht stolz über sein Werk. "Ich hoffe, jedem hilft es so sehr beim Zuhören, wie es mir beim Erstellen geholfen hat." Dem lässt sich nichts mehr hinzufügen!

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