2024: an der Kreuzung von Pop und Country

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"2024 demonstrierten Pop-Künstler ihr Liebe für Country Music, und die Wählerschaft der Grammy Awards honorierte das. Pop und R&B Stars dominierten die Country Grammy Nominierungen, darunter Beyoncé, die als einzige Künstlerin eine Nominierung in allen 4 Country Kategorien erhielt." (Melinda Newman / billboard.com, 8. November 2024)

Graffiti

"Farben, Bewegung, Individualität, Text. Graffiti kann für mich eine andere Bedeutung haben, als für dich. Für gewöhnlich plane ich meine Arbeiten nicht sehr. Ich gehe am liebsten völlig unvoreingenommen heran und fühle mich frei dabei, denn das ist das Besondere an Graffiti. Es ist künstlerischer Ausdruck und es gibt dabei kein richtig oder falsch. Es stellt meine Interpretation dar. Und das versuche ich meinem Betrachter zu vermitteln."
(Troy Duff, Graffiti-Künstler zu Pandora, 2. Mai 2018)

Keith Urban ist einer der wenigen Künstler im modernen Country Genre, dem man fast immer mit Respekt begegnet ist. Selbst dann noch, als er sich in den letzten Jahren musikalisch unverkennbar vom Country Genre weg zu bewegen begann. Das ist zweifellos seinem Talent als Musiker und Gitarrist geschuldet, aber auch dem musikalischen Erbe, das er schon jetzt mit seinem Frühwerk hinterlassen hat. Denn auch 17 Jahre nach seinem offiziellen ersten Major-Label Album zählt er immer noch zu den kommerziell gefragtesten Künstlern des Genres. Ein Status, der nun auf eine harte Probe gestellt wird.

Am 27. April 2018 veröffentlichte Keith Urban sein 9. Studio-Album unter dem Titel "Graffiti U". Wie schon bei allen bisherigen Alben, findet sich kein Song zum Albumtitel, sondern der Titel ist eine Annäherung an die Stimmung oder das Thema des Werks. Was mit einem ersten Verschmelzen von Stilrichtungen auf "Fuse" begonnen hatte, bringt uns mit Graffiti zu einer Leinwand ohne Skizzen oder Vorgaben, auf der der Künstler -mehr oder weniger spontan- sein Werk entstehen ließ. Das angehängte U im Titel fungiert als Bindeglied zwischen dem Künstler (symbolisiert durch den ersten Buchstaben seines Familiennamens) und dem Publikum, umgangsschriftlich für das you stehend.



13 Songs (und 2 Intros) beinhaltet das Projekt, von denen man drei bereits im Vorfeld hören konnte. Die Ballade 'Female' war bereits im vergangenen Herbst veröffentlicht worden und bis auf Platz 12 in den Radio (Billboard Country Airplay) Charts geklettert. Bis zuletzt war unklar, ob sie auf dem neuen Album inkludiert sein würde oder nicht. 'Female' war die erste Keith Urban Single seit 1999, die nicht die Top-10 erreicht hatte. Nach 37 Top-10 Hits in Folge ein unverkennbarer Beweis für Erfolg, Beständigkeit und Beliebtheit des Künstlers.

Die von u.a. Ed Sheeran geschriebene R&B-Ballade 'Parallel Line' war im Jänner 2018 ursprünglich nur für den Australischen Markt veröffentlicht worden. Kurz tauchte sie danach in den US-Charts auf, wurde aber dann von der offiziellen und aktuellen US-Single 'Coming Home' abgelöst. Diese ersten 3 Lieder zeigen eine Weiterführung des eingeschlagenen Weges, der konsequent von gitarrenbasierender Musik immer intensiver zu groove- und beatbasierenden Sounds führte. Und damit zu den 10 übrigen Songs auf dem Album, die für mehr als nur ein paar Unstimmigkeiten sorgen werden.



Um es ganz klar vorweg zu nehmen: "Graffiti U" ist zwar ein Keith Urban Album, aber es ist längst kein Country Album mehr. Konsequenterweise hätte man damit sogar den Schritt tun müssen, den Taylor Swift 2014 gewagt hatte, als sie mit ihrem Album "1989" offiziell den Wechsel ins Pop-Genre deklariert hatte. Denn "Graffiti U" ist ein Pop-Album mit EDM-Elementen, das im Country Genre nichts mehr verloren hat. Entsprechend sind auch andere Maßstäbe anzusetzen, um es zu verstehen, aber auch bewerten zu können.

In vielen Interviews wird ersichtlich, wie sehr es Keith Urban liebt, im Studio zu arbeiten. Unwillkürlich denkt man den kleinen Jungen, der mit großen Augen vor dem Schaufenster des Spielwarengeschäftes steht. Mit dem Unterschied, dass Keith Urban nicht nur schauen, sondern auch spielen darf. Viele nehmen dabei mit etwas Bedauern zur Kenntnis, dass dort Computer die Funktion von Gitarren übernommen haben, um Musik zu erschaffen.

Bereits im März 2018 hatte Keith Urban im Rahmen des South-by-Southwest (SXSW) Musik-Festivals festgehalten: "Auch wenn dein Instrument ein MacBrook Pro ist, musst du trotzdem die Dinge so zusammenstellen, dass sie ein überzeugendes Ergebnis liefern. Für mich ist das nicht anders, als wenn jemand Gitarre oder Schlagzeug spielt."

Im Zentrum der Songs stehen nun nicht mehr Texte, sondern Stimmungen, die mit elektronischen Mitteln über Beats und Grooves ihren Emotionen Ausdruck verleihen wollen. Texte sind nur mehr ein untergeordnetes Element, um den Sound zu stützen. Entsprechend sind fast alle Songs erst im Studio entstanden. Da gab es keine Geschichte, die erzählt werden musste und für die erst eine Melodie und Instrumentierung erarbeitet wurde.


"Graffiti U" begann an den Reglern im Studio, die Texte kamen zum Schluss, wie Keith Urban seinen kreativen Prozess gegenüber Pandora beschreibt: "Ich fange mit den drum beats und den grooves an. Viele meiner Songs fangen mit einem groove an, der mir gefällt und zu dem ich dann den Bass spiele. Oder die Gitarre oder das Klavier oder irgendetwas anderes. Oder ich singe dazu. Einfach das, was es in mir auslöst. Und erst daraus entsteht eine Geschichte. Aber zuerst ist die Musik da."


Bereits jetzt spaltet das Werk die Fangemeinde. Es fällt einem schwer, sich auch nur eine kommende Single für das Country Genre aus dem Album vorzustellen. 'Texas Time' mag ein Kandidat sein, das so manchen an 'Tulsa Time' von Eric Clapton erinnert. Allerdings muss man sich fragen, was der Refrain "Gib mir ein enges T-Shirt auf einem heißen Körper" mit Texas zu tun hat?
Man hört sie zwar kaum, aber Lindsay Ell unterstützt Keith Urban auf dem Song 'Horses', dem dafür ein echtes Schlagzeug und weniger oohoohoos besser tun würde.

Das melancholische 'Same Heart' könnte auch als Pop-Ballade im Country Radio funktionieren. Denn im Gegensatz zum (pop-)hitverdächtigen Sommer-Groove 'Love The Way It Hurts' kommt es weitgehend ohne EDM-Elemente aus. Aber alle mehr Uptempo Songs können sich eigentlich nur im Pop-Radio zu Hause fühlen. Und das ist es, was Keith Urban gegenüber Entertainment Weekly bereits vorweg genommen hatte, als er sagte: "Ich bin viele Dinge, aber da ist eine ganz große kommerzielle Radio-Seite in mir."

Und nur unter diesem Aspekt lässt sich das Album bewerten. Für etwas anderes wurde es nicht gemacht. Eingängig, leicht verdaulich, durchaus abwechslungsreich und überraschend, das muss man ihm zugestehen. So findet sich mit 'My Wave' ein sommerlicher Reggae-Groove auf dem Album und mit 'Gemini' eine Dancefloor-Nummer mit ansteckendem Rythmus.



Erst im allerletzten Song ('Steal My Thunder') bekommt man ein Gitarrensolo zu hören. Ein Lied, das mit über 7 Minuten ausgewiesen wird, das aber eigentlich schon nach knapp 5 1/2 Minuten zu Ende ist. Ehe es nach einer weiteren Minute Stille nochmal mit nicht ganz nachzuvollziehbarer Vokal-Akrobatik endet.

"Graffiti U" bringt Keith Urban an eine Scheidelinie. Es ist ein Projekt, das im Country Genre keine Spuren hinterlassen wird und mit dem er durch die Türe hindurch gegangen ist, die er mit den beiden vorherigen Alben weit aufgestoßen hatte. Ob das heißt, dass sie hinter ihm zuschlagen wird und er sich in einer Sackgasse wiederfindet oder ob das Album Basis für einen neuen Karriereabschnitt sein kann, wird sich zeigen.

Manchmal lässt man ja dann auch nur Gras über eine weniger erfolgreiche Sache wachsen und vertraut auf altgewohnte Stärken für einen Neuanfang. Dabei lässt sich der Erfolg ja noch gar nicht so recht beurteilen. Im Moment klingt es jedenfalls schon fast wie abgesprochen, dass Keith Urban in jüngsten Interviews wiederholt seiner Begeisterung für den Rapper Post Malone Ausdruck verliehen hatte, und es nun genau dessen neues Album ist, das ihn in den Australischen Album Charts auf Platz 2 verweist. Aber jeder braucht eben im Leben Vorbilder, denen er nacheifern kann.

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