2024: an der Kreuzung von Pop und Country

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"2024 demonstrierten Pop-Künstler ihr Liebe für Country Music, und die Wählerschaft der Grammy Awards honorierte das. Pop und R&B Stars dominierten die Country Grammy Nominierungen, darunter Beyoncé, die als einzige Künstlerin eine Nominierung in allen 4 Country Kategorien erhielt." (Melinda Newman / billboard.com, 8. November 2024)

Trennungsbewältigung

"Ich nenne sie 'sangers' - so wie traurige Lieder (sad songs), die abgehen (bangers). Man möchte irgendwie tanzen und grooven, im Auto oder in der Küche. Darum geht es doch bei Musik. Ich wollte nicht, dass es ein schweres Album wird; ich wollte, dass es ermutigt und die Leute inspiriert."
(Lindsey Ell / Rolling Stone Country, 13. August 2020)
Als Jerry Wexler 1972 das okay bekam, mit Willie Nelson einen Country Interpreten für Atlantic Records unter Vertrag zu nehmen, war das mehr ein Zugeständnis an sein Gespür für Ausnahmenkünstler, als eine Anerkennung des Talents von Willie Nelson. Denn, wie Jerry Wexler später zitiert wurde: "Keine Menschenseele bei Atlantic Records hatte eine Ahnung von Country Music und auch kein Interesse daran."

Zu dem Zeitpunkt war der ehemalige Musikjournalist bereits zu einem der einflussreichsten und erfolgreichsten Musikproduzenten aufgestiegen. Noch als Journalist bei Billboard Magazine hatte er den Genre-Begriff Rhythm & Blues ins Leben gerufen, eine Musikrichtung, die er ab Mitte der 1950er Jahre auch maßgeblich als Produzent und Manager bei Atlantic Records mitgeprägt hatte. Denn das 1947 in New York gegründete Label Atlantic Records hatte sich auf Jazz, Soul und R&B spezialisert und unter Jerry Wexler Interpreten wie Ray Charles, Dusty Springfield, Aretha Franklin und Wilson Pickett bekannt gemacht.

So produzierte Wexler unter anderem den Klassiker 'Respect' für Aretha Franklin. Und als sich das Label in Folge mehr hin in Richtung Rock und Pop öffnete, war er maßgeblich daran beteiligt, dass die britische Rock Band Led Zeppelin unter Vertrag genommen wurde. Was also sollte schon schiefgehen, wenn der schon immer an Country und dem Süden interessierte Jerry Wexler plötzlich einen langhaarigen Hippie aus Texas, von demm noch niemand außerhalb von Austin und Nashville je gehört hatte, unter Vertrag nahm?

Willie Nelson war beeindruckt von den Freiheiten, die ihm Jerry Wexler anbot und fühlte sich von ihm auch künstlerisch verstanden, sodass er sich gegen eine Verlängerung seines bei RCA demnächst auslaufenden Vertrages entschied und als erster (und letztlich einziger) Country Interpret bei Atlantic Records unterschrieb. Zu dem Zeitpunkt hatte Willie Nelon bereits seit 15 Jahren Musik veröffentlicht, lediglich der wirklich große kommerzielle Hit war noch nicht darunter gewesen.

Das sollte sich allerdings vorerst auch nicht ändern, als Willie Nelson im Frühjahr 1973 zwei Alben in New York City einspielte. Der Aufnahmeort war ein Zugeständnis an das Headquarter von Atlantic Records und Jerry Wexler war nur teilweise als Co-Produzent anwesend. Im Juni 1973 wurde eines der beiden Alben ("Shotgun Willie") schließlich veröffentlicht. Die Aufnahme eines dritten Albums sollte dann jedoch ein Heimspiel für Jerry Wexler sein. Es erhielt den Titel "Phases und Stages" und war in mehrer Hinsicht bemerkenswert.

So arrangierte Jerry Wexler die Aufnahmen im legendären Muscle Shoals Studio in Alabama. In seiner Autobiografie Rhythm and the Blues erklärte Wexler seine Entscheidung mit den Worten: "In Nashville dachte jeder, ich wäre verrückt. Sie meinten, Muscle Shoals wäre zu sehr R&B für Willie; ich sagte, Willie ist zu R&B für Nashville!"
Eine Diskussion, die auch im finalen Mix des Albums noch eine Rolle spielte, als man Wrexler dazu drängte, dem Country Publikum mit einem vertrauteren Sound entgegenzukommen, als dem, der in den Muscle Shoals Studios entstanden war.

Abgesehen vom Aufnahmeort, spielt das Album jedoch inhaltlich eine besondere Rolle in der Musikgeschichte. So gilt es bis heute als eines der ersten Konzeptalben in der Geschichte der Country Music. In der Rock und Pop Musik war es zu der Zeit längst en vogue, dass ein Musikalbum sich einem speziellen Thema widmete oder eine zusammenhängende Geschichte erzählte. Einen ersten Versuch hatte Willie Nelson bereits 1971 (noch für RCA Records) mit seinem Album "Yesterday's Wine" veröffentlicht. Während das Projekt sich an Hand der Lebensgeschichte eines Mannes Gedanken über den Sinn des Lebens machte, folgte nun mit "Phases und Stages" ein inhaltlich leichter zugängliches Thema.

So beschäftigt sich das Album mit dem Ende einer Beziehung - und zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In den Liner Notes beschreibt Willie Nelson, worum es geht:
Titel 1-5 erzählen die Geschichte der Frau. Es beginnt mit 'Washing Dishes'. Sie ist es müde, für jemanden etwas zu empfinden, der selbst nichts mehr empfindet, und 'Walkin' ist besser als Fortzulaufen und zu kriechen ist schon gar nicht gut. Schließlich sagt sie zu ihm: 'Pretend I Never Happened' - lösche mich aus deiner Erinnerung ...
Titel 6-11 geben die Sichweise des Mannes wieder, beginnend mit 'Bloody Mary Morning'. Es war eine lange Nacht in Kalifornien und er fliegt heim, um herauszufinden, dass es da keine Liebe mehr gibt ('No Love Around'). Seine Geschichte geht weiter damit, dass er nicht glauben kann, dass sie fort ist ('I Can't Believe You're Gone') ...

Beide Seiten des Albums erzählen die unterschiedlichen Sichtweisen und die unterschiedliche Art und Weise wie beide die Trennung verarbeiten. Sie zieht bei ihrer Schwester ein und macht sich langsam mit dem Gedanken einer neuen Bekanntschaft vertraut, während er es lange nicht wahrhaben will, bis er schließlich ebenfalls wieder zurück ins Leben findet.


 

Kommerziell verkauft das im Frühjahr 1974 veröffentlichte Album zwar 400.000 Stück, aber große Hits liefert es erneut nicht. Es bleibt das letzte Album, das Jerry Wexler und Atlantic Records für den Country Markt veröffentlichen und damit nur eine kleine, wenig erfolgreiche Fußnote in der illustren Karriere von Jerry Wexler. Trotzdem ebnet es den Weg für den endgültigen Durchbruch von Willie Nelson, der 1975 mit dem spektakulären Konzept Album "Red Headed Stranger" für Columbia Records erfolgen sollte.

Das wiederkehrende, musikalische Thema auf "Red Headed Stranger" und die ungeschliffene Produktion sind revolutionäre Bausteine, die "Phases und Stages" erstmals erkennen lassen, wenn Willie Nelson dort singt: "Phasen und Entwicklungen, Kreise und Zyklen, Szenen, die wir alle schon gesehen haben - hört mir zu, ich erzähle euch mehr davon."

46 Jahre nach Veröffentlichung von "Phases and Stages" kehrt das Konzept-Album wieder zurück in die Country Musik. In Form eines Projekts, das sich ebenfalls mit der Bewältigung einer Trennung beschäftigt. Aber diesemal ist es die junge Kanadische Künstlerin Lindsay Ell, die am 14. August 2020 ihr drittes Studio-Album für Stoney Creek Records unter dem Titel "Heart Theory" veröffentlicht. Es trägt die mit Herzblut geschriebene Handschrift der Sängerin, Gitarristin und Songschreiberin.

So entstanden die 12 Songs auf dem Album aus der persönlichen Verarbeitung ihrer eigenen Trennung. Erst im Laufe der Arbeit stellte sie fest, dass die Themen einer chronologischen Reihe folgten. "Ich schrieb diese Songs in der Abfolge, in der ich die Trennung verarbeitete", fasste Lindsay Ell den Entstehungsprozess in Worte. "Wie cool wäre es, ein Album rund um die 7 Phasen der Trauer genau in der Reihenfolge zu schreiben?" Und plötzlich hielt sie das Konzept des Albums in Händen.

"Heart Theory" folgt somit den Phasen von

  1. Schock ('Hits Me')
  2. Verweigerung ('How Good', 'I Don't Love You')
  3. Wut ('Want Me Back', 'Get Over You', 'Wrong Girl')
  4. Feilschen ('Body Language of a Breakup')
  5. Depression ('Good On You')
  6. Loslassen ('The Other Side', 'Go To')
  7. Akzeptanz ('Make You', 'Ready to Love')
Der persönlichste Moment findet sich zweifellos in 'Make You', ein Lied, das sie gemeinsam mit Brandy Clark erarbeitet hatte und mit dem sie ihre persönliche Missbrauchsgeschichte aus ihrer Kindheit aufarbeitet. "Ich möchte, dass dieses Lied ein schöner Moment ist, an dem Menschen anderen Menschen aus ihrer Vergangenheit verzeihen, aber vorallem auch sich selbst vergeben können."



Trotz der emotional Tiefe des Albums gelingt es Lindsay Ell, ein leicht zu hörendes und eingängiges Werk zu schaffen. "Ich möchte nur, dass es den Leuten hilft. Es soll diejenigen dauerhaft in den Arm nehmen, die Trost suchen, damit sie wissen, es geht uns allen gleich und wir machen das alles ebenfalls durch." Die Ermutigung liegt nicht zuletzt in eingängigen Melodien und einer modernen Produktion von Dann Huff, die das Projekt so universell zugänglich machen, wie es das Thema der Bewältigung einer Trennung auch ist.

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