2024: an der Kreuzung von Pop und Country

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"2024 demonstrierten Pop-Künstler ihr Liebe für Country Music, und die Wählerschaft der Grammy Awards honorierte das. Pop und R&B Stars dominierten die Country Grammy Nominierungen, darunter Beyoncé, die als einzige Künstlerin eine Nominierung in allen 4 Country Kategorien erhielt." (Melinda Newman / billboard.com, 8. November 2024)

Eines Dichter's Lebenslauf

"Ein schmaler Grat zwischen frei und einsam sein.
Es ist ein Stein, der blutet, und der Einfluss von [Opioid] Percocet.
Er glaubt nicht an Gott, aber er betet,
dass ihm etwas Bedeutungsvolles einfällt,
in Worten, wie sie noch niemand gehört hat."
(Poet’s Resumé / Lori McKenna, Josh Osborne, Scott Stepakoff)


Am 25. August 2023 veröffentlichte Tim McGraw mit "Standing Room Only" das 17. Studio-Album seiner langen Karriere. Der außergewöhnliche Titelsong kletterte bis auf Platz 2 in den Radio (Billboard Country Airplay) Charts und wurde damit zu seinem 69. Country Top-10 Hit. Leider kann der Rest des Albums dem Titelsong nicht das Wasser reichen.

Zwar weiß auch 'Remember Me Well' zu beeindrucken. Allerdings bewegt es sich thematisch sehr nahe am Titelsong. Denn der Wunsch, in guter Erinnerung zu bleiben lässt sich nicht nur auf eine verlorene Liebe, sondern auch auf die Vergänglichkeit des Lebens selbst übertragen. 

Schon vor Erscheinen des Albums war 'Hey Whiskey' als mögliche Single veröffentlich worden. Und die Ballade macht auch vieles richtig. Aber wer den Song 'Jack' von Hardy gehört hat, wird zugeben müssen, dass dieser die Konversation mit dem Alkohol so viel bewegender umzusetzen weiß. Das macht 'Hey Whiskey' nur zu einem Abklatsch davon.

'Some Songs Change Your World' versucht sich an einem bombastischen Gitarren-Solo, überrascht dann aber mehr mit der Erkenntnis, dass es eigentlich nicht Texte oder Melodien eines Liedes sind, die die eigene Welt verändern, sondern vielmehr die Umstände, in denen man ein Lied hört. Erst sie machen das Lied zur Projektionsfläche und geben ihm seine individuelle und besondere Bedeutung.

Der Rest des 13 Songs umfassenden Studio-Albums bleibt bemüht, aber leider nicht wirklich in Erinnerung.

Möglicherweise ist das der Grund, dass Tim McGraw schon am 21. November 2023 mit neuer Musik überrascht. Es ist der Thanksgiving-Feiertag und entsprechend lässt er die Welt wissen: "Gemäß dem Dankbarkeits-Motto, möchte ich euch allen danken, die ihr mich, meine Familie und meine Musik über all die Jahre hinweg unterstützt habt. Ich habe für euch eine Überraschung aus einigen Songs, die ihr noch nie gehört habt. Genießt es!"

Es sind 6 Lieder, die Tim McGraw auf einer EP mit dem Titel "Poet's Resumé" zusammenfasst. Es darf nicht überraschen, dass er an keinem davon als Songschreiber beteiligt ist. Denn er versteht sich weniger als Autor, sondern vielmehr als Interpret mit dem Gespür für die richtigen Songs, egal wer sie am Ende des Tages geschrieben hat.

Und in diesem Fall sind es einige der renommiertesten Songschreiber Nashville's, die sich unter den Autoren der 6 Titel finden: Tom Douglas, The Warren Brothers, Lori McKenna, Josh Osborne, Steve Dorff und Jeffrey Steele. Das Ergebnis klingt, als wäre es Tim McGraw auf den Leib geschrieben: Lieder voller Hoffnung, ehrlicher Selbsterkenntnis und Nachdenklichkeit über die wichtigen Dinge im Leben. Es sind Songs, die man einem Künstler im 4. Jahrzehnt seiner Karriere auch abnimmt. Und gleichzeitig stellen alle Beteiligten sicher, dass das Projekt immer noch ein eingängiges Musikwerk bleibt und sich nicht in der Eindimensionalität von Texten verliert.

So schreibt der legendäre Musikkritiker Robert K Oermann über den ersten Song auf der EP: "Wenn ihr den Meister des modernen Country bei der Arbeit hören wollt, dann hört euch 'Runnin' Outta Love' von Tim McGraw an. Es ist meine Platte des Tages."

Das Lied ist mehr als eine modern und eingängig produzierte Liebeserklärung. Es ist ein Statement, dass die Kraft einer glücklichen Beziehung alle Widrigkeiten im Leben zu überstrahlen vermag. 'Runnin' Outta Love' ist vermutlich der radiofreundlichste Song des Projekts und damit Kandidat für eine Nachfolge-Single zu 'Standing Room Only'.

Das von Tom Douglas, Sara Beth Geoghegan und Brett Taylor geschriebene 'Hurt People' bleibt nicht an der glänzenden Oberfläche, sondern geht tiefer. Es nutzt ein Wortspiel, das Rick Brantley bereits 2016 in seinem exzellenten und zutiefst berührenden Song mit dem gleichen Titel umgesetzt hat. Und zwar den Gedanken, dass Menschen unbewusst anderen das antun, was ihnen selbst angetan wurde. Davon geht auch der Song bei Tim McGraw aus:

Verletzte Menschen verletzten Menschen,
gebrochene Menschen brechen Menschen.
...
Verlorene Menschen verlieren Menschen,
verlassene Menschen verlassen Menschen.
(Hurt People / Tom Douglas, Sara Beth Geoghegan, Brett Taylor)

Aber in dieser Piano-Ballade flechten die Songschreiber Optimismus in das Thema, wenn sie die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass die schlechten Erfahrungen doch Motivation sein können, diese zukünftig nicht an andere weiterzugeben.

Hoffnung ist der Faden und Glaube ist die Nadel.
Vielleicht können wir so
verletzte Menschen sein, die Menschen heilen,
gebrochene Menschen, die Menschen flicken,
verwundete Menschen, die Menschen zusammenfügen,
Menschen wie du und ich.
(Hurt People / Tom Douglas, Sara Beth Geoghegan, Brett Taylor)

'20 for 30' beginnt mit der Erkenntnis, sich zu lange an das Alter von 20 Jahren geklammert zu haben. Genaugenommen, die letzten 30 Jahre lang. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, mit dem Erwachsenwerden. Denn schließlich hat man sich in den anderen vor 30 Jahren verliebt.

Der Typ in den sie sich verliebt hat,
ist der, von dem sie manchmal wünscht, ich würde ihn aufgeben.
Wen sie sich von mir wünscht und wer ich einmal war,
ist schwer für sie, denn sie liebt uns beide.
(20 for 30 / Lance Miller, Brad Warren, Brett Warren)

Lange schon arbeiten die Warren Brothers mit Tim McGraw zusammen. So wundert es nicht, dass sie eine Referenz auf seine aus dem US-Bundesstaat Mississippi stammende Ehefrau Faith Hill im Text verarbeiten. Dabei machen sie die Worte aus dem anfänglichen Vorwurf, doch endlich erwachsen zu werden, zum Kompliment an die Partnerin. Und betonen, dass es uns am Ende jung hält, wenn wir unsere eigene Jugend über all der Ernsthaftigkeit nicht vergessen.

Sie ist seit 30 Jahren immer noch 20 für mich,
ein Mädchen aus Mississippi ist alles was ich sehe.
Sie sagt, sie sieht älter aus, aber ich bin anderer Meinung.
Sie ist 20 seit 30 Jahren für mich.
(20 for 30 / Lance Miller, Brad Warren, Brett Warren)

Das eingängie, midtempo 'One Bad Habit' ist ein weiterer Kandidat für eine radiofreundliche Single, in der er ihre einzige schlechte Gewohnheit ist: ich bin ihre wilde Seite, das einzig Verrückte, das sie macht, ich hoffe, sie gibt diese schlechte Gewohnheit nie auf!

Der persönliche Favorit auf der EP ist allerdings 'Been Around Awhile'. Der Song erzählt von der Lebensweisheit, die man sich erst über die Jahre hinweg erarbeiten kann. Und Tim McGraw tut das mitreissend emotional zwischen Keyboard und lichterloh brennender E-Gitarre.

Bin nicht erst gestern vom Himmel gefallen,
ich bin schon länger hier.
Irgendwie habe ich Gott auf einem Zug in die Hölle gefunden,
hab Freunde verloren, neue gewonnen, Herzen gebrochen,
im Namen der Liebe und jede Meile war es wert,
yeah, ich bin schon länger hier.
(Been Around Awhile /  Steve Dorff, Anthony Smith, Jeffrey Steele)

Der Titelsong beendet schließlich dieses außergewöhnliche Projekt. Geschrieben von Lori McKenna, Josh Osborne und Scott Stepakoff erzählt er die Geschichte eines Dichters oder Songschreibers, der vom Erfolg träumt, den er jedoch nie zu erreichen scheint. Und so verdient er sich wochentags als Koch ein Zubrot, folgt einer Liebe in den Westen, nur um von ihr versetzt zu werden und ist immer auf der Suche nach den richtigen Worten. Was bleibt, sind lediglich ernüchternde Stationen auf dem Lebenslauf eines hoffnungsvollen Poeten.

Wenn du vom Herzschmerz lebst, dann bekommst du trotzdem Schwielen.
Worte auf einer Serviette, die niemand versteht.
Jeder liebt ihn, aber keiner bleibt.
Noch ein Whiskey um runterzukommen, noch ein nicht perfekter Reim,
noch eine verlorene Zeile auf dem Lebenslauf eines Poeten.
(Poet's Resumé / Lori McKenna, Josh Osborne, Scott Stepakoff)

Mit "Poet's Resumé" legt Tim McGraw ein Projekt vor, das sein letztes Studio-Album bei weitem überstrahlt. Denn es klingt so authentisch, als wäre es in der Tat seine zusammenfassende Erkenntnis oder das Resumé darüber, was im Leben von Bedeutung ist.

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