Erziehung oder die 6. Kugel
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Die Karriere für Chase Bryant aus dem 1.000 - Seelen Kaff Orange Grove im südlichen Texas begann so, wie man es sich erträumt: mit 20 Jahren unterschrieb er beim Label Broken Bow Records, veröffentlichte im Jahr darauf seine gleichnamige EP und platzierte gleich die ersten beiden Singles daraus in den Top-10 der Radio (Billboard Country Airplay) Charts. So durfte er bereits 2015 mit Tim McGraw auf Tour gehen und als dessen Opener fungieren.
Mit nur 22 Jahre schien Chase Bryant eine musikalische
Familientradition fortzuführen, die sein Großvater
Jimmy Bryant begründet hatte, der für den legendären
Roy Orbison als Musiker aufgetreten war, und die seine Neffen als
Mitbegründer der Country Band Ricochet erweitert hatten. Aber der so
schnell aufgestiegene Stern des jungen Künstlers hatte vorerst seinen Zenith
erreicht und begann wie eine Sternschnuppe zu verglühen.
Für die dritte Single 'Room To Breathe' aus einem kommenden Album schlug Chase Bryant eine neue Richtung ein. Nicht nur mimte er im zugehörigen Video James Bond, sondern der moderne, groovige Titel zeichnete sich durch eine glatte Pop-Produktion aus, die zwar ins Ohr ging, aber viele Country Fans vor den Kopf stieß. In den Charts erreichte sie nicht einmal mehr die Top-40.
Im Interview mit people.com beschrieb er seine musikalische Entwicklung zu dieser Zeit: "Ich suchte den Erfolg ... ich suchte keine Zufriedenheit. Ich versuchte, jemand zu sein, der ich nicht war. Ich war nur der, den sie mir vorgaben. Ich machte, was sie mir sagten, und das war zu der Zeit leicht, weil es mir jeder dankte. Und das war ein Gefühl, das ich nicht kannte."
Frühes Mobbing in der Schule hatte bald dazu geführt, dass er immer stärker nach Selbstbestätigung suchte. Diese Unsicherheit begann er mit wahrgenommener Arroganz zu kompensieren und sich dabei selbst immer mehr zu verlieren. Als auch noch verstärkte Schübe von Depression folgten, begann seine Welt auseinanderzubrechen. "Ich wusste, dass meine [2017er Single] 'Hell If I Know' musikalisch nicht stimmig für mich war. Es war ein Lied, das ich einfach nicht mehr jeden Abend, den Rest meines Lebens singen wollte."
"Ich war ein Wrack und verstand nicht, wie das niemand sehen konnte?" Aber seine emotionalen Hilferufe blieben unverstanden und ungehört. Im Mai 2018 glaubte er schließlich, keinen anderen Ausweg mehr zu sehen. Er belud eine .357er Magnun, fuhr mit seinem Auto auf einen Parkplatz vor einer Tankstelle in Nashville und wollte sein Leben, in dem er keinen Sinn mehr sah, endgültig beenden.
Dass dann jedoch ausgerechnet die eine entscheidende Kammer des Revolvers nicht geladen war, grenzt rückblickend an ein Wunder. So sieht er es heute als Zeichen, wenn er sagt: "Das Leben ist viel zu kurz, mach es nicht noch kürzer. Das ist es nicht wert. Wir haben doch alle etwas, für das wir dankbar sein können."
Zwei Jahre später, im Pandemie-Sommer 2020 wagte er sich mit Produzent
Jon Randall, Schlagzeuger J.J. Johnson und Gitarist
Charlie Sexton in Austin, Texas, in die Arlyn Studios, um nicht
nur an neuer Musik, sondern auch an neuen musikalischem Selbst zu arbeiten. Entstanden ist
sein erstes Album in voller Länge, veröffentlicht auf dem kleinen Label
Green Iris Records. Das Projekt enthält 12 Songs und trägt den Titel "Upbringing".
Nur an einem einzigen Song des Projektes ('In the First Place') war Chase Bryant nicht als Songschreiber beteiligt. Und das begründet er mit den Worten: "Ich war genau in der Situation [die das Lied beschreibt] und ich wusste, ich musste diesen Song aufnehmen. Ich liebe ihn und bin stolz darauf, dass er jetzt zu meinem Reportoire gehört." Der Song beschreibt die ernüchternde Erkenntnis, dass die Partnerin in der Beziehung nicht an erster Stelle gestanden war.
In 'Think About That' verknüpft er glückliche Jugenderinnerungen an seine erste große Liebe, die
er nicht vergessen kann, sich dabei aber einzureden versucht, dass er ohnehin
gar nicht mehr daran denkt.
Die Liebe in einer Kleinstadt wird immer dann ein zusätzliches Problem, wenn sie zerbricht, man aber nicht darüber hinwegkommt. Den dazu notwendigen Abstand zu gewinnen, ist in einer Kleinstadt dann fast unmöglich, wenn man sich gezwungermaßen immer wieder über den Weg läuft.
In der melancholischen Ballade 'Even Now' ist die Beziehung an seiner Achtlosigkeit gescheitert. Nun, da er sie verloren hat und sie mit jemandem anderen sieht, fragt er sich, ob sie nun ausgeglichen (even) hat, auch wenn er auch jetzt noch (even now) an sie denkt.
Verschiedenste Schicksale und Situationen finden sich in 'Somewhere in a Bar' und mit 'Cold Beer' schafft er sich den AC/DC - Back in Black Moment auf dem Album. 'Selfish', 'Paradise' und 'Red Light', der Titel über den Kuss im Auto an einer roten Ampel, stechen durch eine modernere Produktion als der Rest des Albums hervor.
Das Projekt endet mit einer 6-minütigen Ballade voller Hoffnungslosigkeit. "Ich hörte zu der Zeit viel von Willie [Nelson] und Kristofferson", erzählt er soundslikenashville.com. "Ich saß in einem Hotelzimmer und spielte mit diesem einfachen Gedanken, wie könnten wir etas schreiben, dass klanglich niemand von mir erwarten würde."
"Ich wollte ein ehrliches Country Album machen und aus vielerlei Gründen ist 'High, Drunk, and Heark Broke' eines meiner Liebelingslieder darauf, wegen der Art, wie es zustande kam. Denn es klingt wie ein alter Willie Nelson Song oder einer von Kristofferson oder Waylon ...".
Auf itunes scheint das Projekt unter der Rubrik Alternative Country-Musik auf, was auch immer das bedeuten mag. Es ist jedenfalls ein überraschend gelungenes Projekt, mit dem man das Gefühl hat, Chase Bryant könnte sich damit wirklich selbst gefunden haben. Jedenfalls wirkt es glaubhaft, wenn er seine neue Lebenseinstellung zusammenfasst:
"Wenn ich darüber nachdenke, dann möchte ich genau diese eine leere Kammer für jemanden sein. Ich möchte diese eine Kugel aus Erfüllung und Hoffnung sein. Ich hoffe, das nimmt auch eine Kugel aus dem Leben von jemandem. Vielleicht sieht das eines Tages jemand, jemand, der gerade Dinge durchmacht und sich sagt: Weißt Du was? Es gibt Hoffnung - denn die gibt es wirklich."
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