Nichts als Lügen

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"[Studio Zwei] ist unser berühmtester Aufnahmeraum. Als der Ort, wo richtungsweisende Aufnahmen von den Beatles, Shirley Bassey, Kate Bush, Massive Attack, Oasis, Adele und vielen anderen stattfanden, war Studio Zwei seit seiner Eröffnung 1932 immer der Herzschlag populärer Musik." (abbeyroad.com/studio-two)

Bon Aqua

"Wir bestehen vorwiegend aus Wasser. Die Welt ist mehrheitlich Wasser. Als Mikrobiologe habe ich Wasser für pharmazeutische Firmen getestet. Denn alles von Shampoo über Aspirin, Haustierfutter und alles Erdenkliche sonst benötigt Wasser. Und nicht nur irgendein Wasser, sondern gutes Wasser. Das war meine Zuständigkeit."
(Stephen Wilson Jr. / musicrow.com, 24. März 2023)

Das erste, worauf der Blick fällt ist, ist das gestickte Emblem der Jungfrau Maria, umrankt von roten Rosen, das seine Baseball Kappe ziert. Sein nach unten gerichteter Blick durch die große Hornbrille wirkt verlegen, während er sich an der akustischen Gitarre auf seinen Knien festhält. Irgendwie passt dieser Eindruck vom schüchternen Nerd zu den Worten, mit denen er sich im Gespräch mit BMG Nashville im März 2019 dann selbst vorstellt:

"Mein Name ist Stephen Wilson Jr. Ich komme aus Seymour, im Süden von Indiana oder Kentuckiana, wie es manche nennen. Ich kam hierher [nach Nashville], um nahe an der Musik zu sein, wurde Wissenschaftler und begann Lieder zu schreiben. Und [genau] das tue ich jetzt - ich bin ein Lieder-Wissenschaftler."

Am 24. März 2023 veröffentlichte Stephen Wilson Jr seine erste EP auf dem Label Big Loud Records, das ihn erst kurz zuvor als Künstler unter Vertrag genommen hatte. Das Projekt trägt den Titel "Bon Aqua" und beinhaltet 7 Songs, von denen 6 bereits während der letzten Jahre veröffentlicht wurden. Lediglich das Duett 'American Gothic' mit Hailey Whitters ist ein neuer Titel.

Mit dem Projekt stellt sich Stephen Wilson Jr nun auch als Künstler vor, denn als Songwriter kennt man ihn in Insiderkreisen schon etwas länger, haben doch bereits so namhafte Intepreten wie Old Dominion, Brothers Osborne, Tim McGraw und Caitlyn Smith ('I Can't') mit oder von ihm erarbeitete Songs aufgenommen.

Bezugnehmend auf die Amerikanische Indie-Rock Band Death Cab, bezeichnet er selbst seine Musik als Death Cab für Country. Oder wie musicrow.com es zusammenfasst: "Er orientiert sich an Indie Rock, Grunge und Country, und schafft daraus einen Sound, in dem sich Einflüsse von so breit gefächerten Künstlern wie The National, Willie Nelson, John Mellencamp und Nirvana finden."

So ist sein erster Song aus dem Jahr 2020 mit dem Titel 'Year to Be Young 1994' gespickt mit Jugend-Erinnerungen: ich muss gestehen, ich habe das Feuer gespürt, Kurt Cobain, ein Fender Mustang, aufgewachsen mit MTV.

Du glaubst, alles zu wissen, obwohl du es nur nicht besser weisst.
Sagst dir, du wirst ewig leben,
das Feuer brennt und ich schwärme immer noch von 1994.
(Year to Be Younger 1994 / Benjamin West, Stephen Wilson Jr)

Viel existentieller beginnt das Projekt jedoch mit dem unheilvollen Titel 'the devil', das sich Gedanken über eine Welt macht, in der das Vertrauen verloren gegangen ist und keiner mehr Rücksicht auf den anderen nimmt:

MIt der Hand auf der Bibel lügen,
aus Maden werden Fliegen.
Die ganze Welt, sie ist verdorben,
und Mama sitzt wieder im Knast.
Es scheint, keiner kriegt genug,
dabei denke ich, wir haben genug von Schul-Schießereien.
(the devil / Stephen Wilson Jr)

Über 'American Gothic', das Stephen Wilson Jr gemeinsam mit Benjamin West und Hailey Whitters geschrieben hat, sagt er selbst: "Als wir uns vor ein paar Jahren trafen, hatte Hailey diese großartige Idee [für einen Song], zu dem sie ihr Lieblingsgemälde ["American Gothic"] von Grant Wood inspiriert hatte. Gemeinsam wollten wir Bestandteile der Amerikanischen Kultur über Elemente der Nostalgie vermitteln und dabei die gleiche Dualität anwenden, wie es auch das Gemälde zu machen scheint."

Die Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln findet sich als klassisches Country-Thema im bellenden 'Hometown'. Gelungen umspielt er mit Worten die Gegensätze und die Sinnfrage.

Wie ich hier gelandet bin, ich habe keine Ahnung,
[fühle mich] wie eine Steel Gitarre in einem Disco Song.
Ich bin nirgendwohin gekommen, seitdem ich weggegangen bin,
[keine Ahnung] wie ich hier gelandet bin, wo ich nicht hingehöre.
(Hometown /  Marv Green, Tony Lane, Stephen Wilson Jr)
 
Anders als typische Country Texte glorifiziert der Song jedoch nicht die Heimatstadt, sondern sehnt sich nur nach Vertrautem, auch wenn dabei immer noch Einsamkeit mitschwingt:
Da ist ein Friedhof, wo mein Großvater ist,
und ein Lebenstempo, das ich sehr vermisse,
und die High School Liebe, die ich nie geküsst habe.
(Hometown /  Marv Green, Tony Lane, Stephen Wilson Jr)

Wesentlich düsterer klingt 'Holler from the Holler'. Gemeinsam mit Craig Wiseman geschrieben, scheint es, als offenbart sich Stephen Wilson Jr bereits in der ersten Zeile: Ich war ein stilles Kind, als ich aufgewachsen bin, die ersten 20 Jahre habe ich nicht viel gesagt.
Aber schnell wandelt es sich zur Beschreibung eines zerrütteten Sozialumfeldes. Ein Nährboden für das Thema, das im zugehörigen Video so eindringlich umgesetzt wird, dass es gar mit einem Warnhinweis beginnt: "Dieses Video beinhaltet Material, das für manches Publikum verstörend sein kann, insbesondere Gewalt, was bei Menschen, die mit häuslicher Gewalt in Berührung gekommen sind, ein Trauma auslösen kann. [Es gibt telefonische Hilfe.]"

Gleich 6 Auszeichnungen von unabhängigen Film Festivals hat es für seine Inszenierung des Themas häusliche Gewalt bekommen.

Zu leichteren Country-Themen kehrt der Song 'billy' zurück, der all die bekannten Provinz-Klischees in neue Worte fasst, nur um im Refrain festzustellen, dass die Verwendung des Namens Billy nicht ausreicht, um aus einem Landei einen Stadtmenschen zu machen. Denn es gibt Billy eben nicht ohne hill - er bleibt einfach immer ein Hillbilly.

Das Projekt endet mit dem optimistischen 'The Beginning', welches feststellt, dass sich die Erde immer noch dreht, obwohl man ihr Ende schon von Anfang an vorhergesagt hat. "Das Video entstand mitten in der COVID-19 Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen", erzählt Stephen Wilson Jr. "Wir haben versucht den Text mit Bildern aus aller Welt umzusetzen, die zeigen sollen, welche kulturellen Unterschiede in uns vorhanden sind. Da ich mit viel christlich-apokalyptischer Angst aufgewachsen bin, habe ich mir immer Gedanken darüber gemacht, wie die Menschheit mit dieser End-Philosophie weiterleben kann."

Stephen Wilson Jr ist mit einem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, der ihn zum Box-Sport ermutigt hatte. Gleichzeitig wurde der Vater zu seiner wichtigsten Bezugsperson im Leben. Entsprechend traumatisch war der Abschied, den er von ihm nehmen musste, als dieser 2018 verstarb. Ein persönlich so einschneidendes Erlebnis, dass daraus der Song 'Hang In There' entstanden ist.
Er befindet sich zwar nicht auf dem aktuellen Projekt, aber er hilft, den Künstler Stephen Wilson Jr als Menschen noch ein bisschen besser zu verstehen.

"Es ist jetzt 2 Jahre her, dass er gegangen ist. Ich schrieb diesen Song für ihn und habe ihn live in meinem Garten anlässlich der zweiten Wiederkehr des schlimmsten Tages in meinem Leben aufgenommen. Gleichzeitig ist es der Beginn für etwas Neues. Ich habe Dinge in mir entdeckt, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt. Ich kann es nur damit erklären, dass sich Punkte in meinem Kopf neu verbunden haben."

"Ich war mit 150km/h auf der Interstate-65 nach Norden in Kentucky unterwegs, um es irgendwie noch zu schaffen, da zu sein, bevor er geht. [Aber] ich verabschiedete mich von meinem besten Freund und Vater auf einem iPhone 8. Das gleiche, auf dem ich das hier schreibe. Ich werde es nie weggeben, obwohl es kein Upgrade mehr dafür gibt. Er war unser alles. Das Fahren fühlte sich an wie fallen. Er war so stark und ruhig und seine letzten Worte zu mir waren: alles wird gut, mein Junge. Schreib einen guten Song für mich. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich ... Sekunden später, und obwohl ich noch 100 Meilen weg war, wusste ich es, dass es vorbei war."

Am 20. Mai 2023 wird der Song-Wissenschaftler Stephen Wilson Jr mit seinem Grunge-Country erstmals in der Royal Albert Hall von London auftreten.

Ach ja, und der Titel seiner ersten EP leitet sich vom kleinen Ort Bon Aqua in Tennessee ab, wo nicht nur der Großteil des Projektes und der zugehörigen Videos entstanden ist, sondern wo es auch -und da schließt sich der Kreis- eine Mineralquelle gibt, die dem Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten Ort zu seinem Namen verhalf.


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