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"Wie selten entdeckt man einen Künstler, der sich zwischen Rock Riffs und akustischen Balladen bewegen kann, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Brett [Shiroky] schafft das mit einem Sound, der sich sowohl klassisch und neu, ein bisschen Zeppelin, ein bisschen 90'er Country, und nach ganz viel Soul anfühlt." (Nick Tressler / raisedrowdy.com, 28. April 2025)

Gegen die Maschine

"Die Leute waren entsetzt, als Dylan beim Newport Festival [1965] mit E-Gitarre auftrat, das war in dem Moment kein Erfolg. Die Leute buhten ihn aus und warfen Dinge. Aber heute ist es ein Paradigmen-Wechsel. Du und ich, wir sagen uns, verdammt ich wünschte ich wäre dabei gewesen."
(Eric Church / Los Angeles Times, 2. Mai 2025)

Als Eric Church im April 2024 als einer der Headliner beim legendären Stagecoach Festivals in Kalifornien auftrat, fühlten sich viele Fans vor den Kopf gestoßen. So sehr, dass viele bereits nach 15 Minuten den Zuschauerbereich zu verlassen begannen. "Eric Church ist eine Legende, aber er ist nicht mal von seinem Barhocker aufgestanden und die meisten Songs sind Cover Songs mit einem Chor gesungen", schrieb etwa die Journalistin Anastassia Olmos auf ihrem X-Account. "Dafür sind wir nicht hergekommen."

Was war geschehen? Anstatt wie gewohnt, eine Show mit seinen Hits zu spielen, hatte Eric Church bei seinem Auftritt auf seine Band verzichtet und stattdessen einen 16-Personen Gospel-Chor mitgebracht, der ihn musikalisch begleitete. Ein Auftritt, bei dem er Cover Versionen von Leonhard Cohen ('Hallelujah'), Al Green ('Take Me to the River'), Snoop Dogg ('Gin and Juice') präsentierte, aber auch Gospel-Standards wie 'Swing Low, Sweet Chariot' oder 'Amazing Grace'.

Im Interview mit der Los Angeles Times vom Mai 2025 steht Eric Church auch ein Jahr später noch zu seinem Auftritt: "Ich wusste natürlich irgendwie, dass es nicht die passende Bühne für so eine Show ist. Denn da sind 30.000 TikToker auf den Schultern anderer, die sich selbst fotografieren wollen. Aber ich machte es, weil es das größte Megaphone darstellte und weil ich so die größte Aufmerksamkeit erhalten würde."

Es war ein erster Einblick in die Musik, die ihn seit einiger Zeit bereits beschäftigt hatte.

"[Jazz Musiker] Trombone Shorty spielte ein Konzert mit mir in New Orleans auf der Gather Again Tour [2022] und danach kamen wir ins Gespräch über Musikgeschichte, Blechbläser und Streichinstrumente", erzählte Eric Church der Los Angeles Times. "Später lud er mich ein, auf dem Jazz Fest [in New Orleans] zu spielen - da waren nur 2 weiße Künstler auf der Bühne an jenem Abend: ich und Steve Miller."

"Wir spielten meinen Song 'Cold One' in einer noch nie gehörten Version mit Bläsern, Background Sängern und einer schäbigen Violine. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder den Song wirklich kannte, aber irgendwie fanden wir zusammen und es war genial. Als ich zurückflog, dachte ich mir: ich möchte so ein Album machen."

Das Ergebnis präsentierte Eric Church am 2. Mai 2025 unter dem kryptischen Titel "Evangeline vs. The Machine". Es ist sein erstes offizielles Projekt mit neuer Musik seit 2021. Mit nur 8 Songs und einer Länge von knapp 36 Minuten lang, stellt es einen krassen Gegenpol zum aktuellen Trend Mehr ist Besser dar.

Dabei wäre das von Jay Joyce produzierte Werk beinahe noch kürzer geworden, wie Eric Church bei Variety erzählte: "Ursprünglich dachten wir, dass das Album nur 6 Songs haben sollte. Aber als wir es uns nochmal anhörten, fiel uns auf: es ist doch ein wenig zu ernst, kein Lächeln, zu dramatisch. Also ergänzten wir noch 'Hands of Time' [die aktuelle Single] und 'Rocket's White Lincoln'".

Das musikalische Ergebnis des Projektes ist mit Sicherheit ein wenig so wie der Auftritt beim Stagecoach Festival 2024: es wird so manchen Fan enttäuscht und ratlos zurücklassen, klingt es doch mit seinen Streichern, Bläsern und Chören so völlig anders und gar nicht vertraut.

Bei music.apple.com spricht Eric Church über die Atmosphäre des Albums: "Streicher und Chöre können eine Spannung erzeugen, die man von einer Gitarre oder einem Keyboard einfach nicht bekommt. Sie können eine Dramatik erzeugen. Und vieles an dem Album hat Dramatik. Es klingt fast wie ein Film-Soundtrack."

Als Garth Brooks 2014 sein Comeback-Album veröffentlichte, trug es mit "Man Against Machine" einen ähnlichen Titel. Er sollte für das Thema stehen, als Künstler nach 14 Jahren Pause erst wieder lernen zu müssen, sich gegen die Maschine der Musikindustrie zu behaupten: "Genau berechnet und detailliertes Design, aber ist es wirklich zum Besseren oder nur für mehr Umsatz? Mir scheint, in letzter Zeit bestimmt die Maschine den Amerikanischen Traum."

Aber während Garth Brooks das Thema nur in den Titelsong des Albums, den er gemeinsam mit Jenny Yates und Larry Bastian geschrieben hatte, verpackte, macht Eric Church gemeinsam mit Jay Joyce ein durchgängiges Konzept-Album daraus und löst auch das Thema von einer reinen Betrachtung der Musikindustrie.

Bei gardenandgun.com spricht er von der Motivation und Bedeutung des Album-Titels: "Meine Kinder sind 13 und 10, und sie sind auf ihren iPads oder ihren Smartphones - alles ist bestimmt von Maschinen. Evangeline ist die [künstlerische] Muse, das kreative Element im Gegensatz zur Maschine. Innovativ zu bleiben in einer Welt, die alles zu vereinheitlichen versucht, ist schwer. Mit einem Album wie diesem versuche ich meine Kreativität gegen die Maschine zu verteidigen."

Von diesem Kampf erzählt das von Casey Beathard, Tucker Beathard und Monty Criswell geschriebene 'Bleed On Paper'. Es ist das Herzblut, das ein Songschreiber zu Papier bringt.

Ich singe von dem, was ich weiß,
zwischen Dur und Moll,
ein Spiel mit dem Bittersüßen,
auch wenn es nicht der letzte Trend ist.
Ein bisschen Teufel, ein bisschen Retter,
jede Menge berührende Lebensgeschichten,
mit blauer Tinte auf ein leeres Blatt
und einer alten Gitarre, blute ich auf Papier.
(Bleed On Paper /  Casey Beathard, Tucker Beathard und Monty Criswell)

Während des Country Radio Seminars (CRS) im Februar 2025 in Nashville sprach Eric Church über die Erfahrungen, die ihn in den letzten Jahren so schmerzlich geprägt hatten: "Ich stand [2018] an einem Freitag auf der Bühne in Las Vegas, dort wo am nächsten Tag die schlimmste Massenschießerei in der Geschichte der USA passieren würde. Ich habe dort viele Fans verloren und es war ein Moment, der mich verändert und etwas in mir zerbrochen hat."

"Vor etwa einem Jahr gab es auch in Nashville eine Schießerei in einer Grundschule. Sie ist nur 1 1/2km von der Schule entfernt, in die meine Kinder gehen. Das vielleicht Schwierigste, das ich in meinem Leben gemacht habe, war meine Kinder am Tag nach der Schießerei in ihre Schule zu bringen. Ich saß in meinem Auto, noch lange nachdem sie bereits hineingegangen waren. Und wie das Schicksal es so wollte, kam im Radio der Song 'The Devil Went Down to Georgia' von Charlie Daniels. Und ich dachte mir, der Teufel ist nicht mehr nur in Georgia, er ist überall."

Daraus entstand das Kern-Element des Albums, der Song 'Johnny', benannt nach der Heldenfigur Johnny aus dem Song 'The Devil Went Down to Georgia'.

Ich dachte mir heute morgen,
als ich meine Buben spielen sah,
wie verschieden mein Leben in ihrem Alter war.
Jetzt kontrollieren Maschinen die Menschen,
und Leute schießen auf Kinder,
mir schaudert daran zu denken, was als nächstes kommt.
(Johnny / Brett Warren, Luke Laird, Eric Church)

'Darkest Hour' mit hoffnungsvoller Botschaft ist den Opfern des Hurricane Helene gewidmet, aber es scheidet die Geister mit dem nicht wirklich gelungenen Versuch, Emotionen mittels Falsett-Stimme zu transportieren.

'Storm In Their Blood' spricht von Menschen, die manchmal zu laut und unberechenbar sind, während 'Evangeline' den künstlerischen Gegenpol zur Maschine symbolisiert. Das griechische Sigma auf dem Cover des Albums ist wohl eine optische Anlehnung an den ersten Buchstaben in Evangeline, welches zur Seite gekippt zum M in Maschine wird. So wie es bei apple.music auch animiert dargestellt wird.

Thematischen aus dem Rahmen fällt das unbeschwerte, von Eric Church selbst geschriebene 'Rocket's White Lincoln' über eine abendliche Ausfahrt mit dem weißen Lincoln, bei dem man merkt, das es erst nachträglich inkludiert wurde. Möglicherweise ein Zugeständnis an das Label, um daraus eine zukünftige Radio-Single zu machen.

Etwas besser fügt sich die aktuelle Single 'Hands of Time' ein, in der es um das allgegenwärtige Thema der Vergänglichkeit geht. Erinnerungen an von Musik umrahmte Erinnerungen machen bewusst, dass sich die Zeiger der Zeit nicht aufhalten lassen.

Das Album endet wieder düster, mit einer unerwarteten Cover-Version des Tom Waits Songs 'Clap Hand'.

"Evangeline vs. The Machine" ist ein überraschend mutiges Projekt von Eric Church, das sich abseits positioniert und so manchen Fan enttäuschen wird. Aber es bestätigt den Künstler Eric Church, der damit nicht auf der Suche nach kommerziellem Erfolg ist, sondern sich ein anderes Ziel dafür gesteckt hat:

"Heutzutage nehmen wir eine Menge Songs auf und Alben haben dann 35 Titel, aber es fehlt dann irgendwie der Vibe. Ich mache seit 20 Jahren Musik und diesmal wollte ich ein Album mit einem Vibe machen, so etwas wie [das Brian Wilson / Beach Boys Album] "Pet Sounds" mit einem klaren Thema. [Produzent] Jay [Joyce] und ich sagten uns beide: das kann funktionieren oder auch nicht, aber jedenfalls wollten wir es versuchen."

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