Ein Erbstück

"Bevor etwas Neues beginnen kann,
muss etwas anderes zu Ende gehen.
Ich bin bereit, neu anzufangen,
deshalb liebe ich den Winter."
(Winter / Fred Wilhelm, Luke Sheets, Ryan Kinder)

Wer (noch) kein Fan und nicht auf Sozialen Medien wie TikTok unterwegs ist, der wird bedauerlicherweise nicht mitbekommen haben, dass Ryan Kinder am 6. Dezember 2024 sein zweites Studio Album veröffentlicht hat. Es ist der Nachfolger von "Room to Dream" aus dem Jahr 2021 und ist ebenfalls eigenständig produziert.

"Heirloom" [Erbstück] beinhaltet 13 Songs. An 12 von ihnen war Ryan Kinder als Songschreiber beteiligt. Es sind Geschichten über Emotionen. Emotionen, die auf den ersten Blick mit Beziehungsthemen zu tun haben, sich auf den zweiten Blick aber auch auf andere Themen des Lebens übertragen lassen. Gefühle, die uns Menschen zu empfindenden und manchmal auch nachdenklichen Wesen machen.

Oder wie es in der offiziellen Presse-Mitteilung heißt: "Eine Sammlung von Liedern, die sich  persönlich und zugleich zeitlos anfühlen, und die sich mit Themen von Verlust, Heilung und familiären Beziehungen auseinandersetzen."

Gemeinsam mit Produzent Luke Sheets ist daraus ein abwechslungsreiches Projekt entstanden, dem Ryan Kinder mit seiner markanten Stimme nicht nur seinen ganz persönlichen und unverkennbaren Stempel aufgedrückt hat, sondern das mit seinen Tempo-Wechseln und einer modernen, aber nicht überladenen Produktion sich alles andere als langweilig erweist.

Obwohl das erste Wort im ersten Song-Titel Verlorenheit ['Lost On You'] anzudeuten scheint, ist es nicht mehr als ein kleines Wortspiel, das dem Ohrwurm über sommerliches Liebesglück nichts von seiner Unbeschwertheit nehmen kann.

Tatsächliche Verlorenheit inmitten eines Chaos von Gefühlen vermittelt das wesentlich nachdenklichere 'What If I'. Bereits 2023 veröffentlicht, versucht es auf der Suche nach den Gründen für eine zerbrochene Beziehung die richtigen Fragen zu stellen. Es sind genau diese Was-Wenn-Fragen über einen selbst und die Dinge, die man im Leben getan oder verabsäumt hat, zu tun. Nicht ohne Dramatik, macht Ryan Kinder den Song zu einem ganz besonderen Highlight des Projekts.

Was wenn ich nicht so kaputt wäre?
Was wenn ich nicht so viel Angst hätte?
Was wenn ich nicht so hoffnungslos,
immer [nur] am Bewältigen und keine Baustelle wäre?

Was wenn ich nicht aufgegeben hätte?
Vielleicht hättest du nur Zeit gebraucht.
Was wenn ich mich entschuldigt hätte für die Dinge, die ich nie getan habe?

Was wenn ich ...
(What If I / Dani Poppitt, Nathaniel Motte, Ryan Kinder)

Das Mid-Tempo 'Sometimes It Don't' beschreibt eine On-Off-Beziehung, in der die beiden nicht wissen, ob sie wirklich voneinander lassen wollen. Es sind die spontanen Egoismen, auf die wir gerne auch im Leben zurückgreifen, um unsere Entscheidungen zu rechtfertigen. Geschrieben von Jordan Schmidt, Josh Osborne und Hardy, ist es der einzige Song auf dem Album, an dem Ryan Kinder nicht als Songschreiber beteiligt ist.

Manchmal bedeutet "Ich hasse dich", wirklich "Ich hasse dich".
Manchmal bedeutet "Ich gehe", wirklich "Goodbye".
Manchmal ist ein Anruf um 2 Uhr nachts, der dich aufweckt,
nur ein irrtümlich ausgelöster.
 
Manchmal ist es nur einsam im Bett,
und "niemals wieder" bedeutet eigentlich dass wir wollen.
Manchmal bedeutet "Es ist aus" wirklich, dass es aus ist.
Ja, aber manchmal tut es das nicht.
(Sometimes It Don't / Jordan Schmidt, Josh Osborne, Michael Hardy)

Die eindringliche Botschaft des treibenden 'Leavin' Kind' steht im krassen Gegensatz zu seinem mitreissenden Sound. Denn Ryan Kinder will damit vermitteln, dass er bleibt, komme was wolle. Leider ist der Titel nicht einmal 3 Minuten lang.

Gott weiss, die Flüsse werden ansteigen,
der Himmel wird fallen und das Geld wird ausbleiben,
die Dämme werden brechen.
[Aber] halte dich nur ganz fest,
denn ich werde hier an deiner Seite sein.
(Leavin' Kind / Cale Dodds, Justin Halpin, Ryan Kinder)

Wer kennt nicht die spontanen Erinnerungen, die ein Lied, das man hört, auslösen können? Man fühlt sich dann zurückversetzt in diesen Moment oder erinnert sich an eine Person, die damit verbunden ist. Dieses Gefühl mit seiner leichten Melancholie beschreibt 'Talking 'Bout You'.  

Wenn der Refrain beginnt, ja dann
ist es wieder wie in jenem Sommer.
Du hast deine Lippen auf meinen und
es fühlte sich an, als könnte es für immer sein.
Warum muss es sich dann anfühlen,
als handelt jeder Song nur mehr von dir?
(Talking 'Bout You / Lacy Green, Luke Sheets, Ryan Kinder)

Während 'Next Best Thing' sich nicht nicht so recht traut, das große Wort Liebe in den Mund zu nehmen (wenn es nicht Liebe ist, dann sagt mir etwas, es ist ganz nahe dran), scheint die einfühlsame Ballade 'Good Again' die Hoffnung verloren zu haben, dass es jemals wieder so gut sein wird.

Der Familienrückhalt wird in 'Family Tree' beschrieben, während 'Bad Things' von der Verlockung verbotener Dinge handelt, die dem Leben manchmal erst seinen Reiz verleihen.

Keinen Weg zurück gibt es in 'Cruel', wenn der Protagonist betont: vergiss nicht, du hast mich für jemanden anderen verlassen, ... ich möchte nicht gefühllos sein, aber ich habe das nur von dir gelernt.

Die eindringliche Piano-Ballade 'Save Me Now' ist auf einem Songschreiber Camp in Oslo entstanden und befasst sich mit der Suche im Leben, der wir uns alle irgendwann stellen sollten.
 
Ich war auf der Suche nach dem Gefühl, alleine unterwegs,
versuchte Sinn und ein Zuhause zu finden.
Glück ist ein Traum,
aber ich kann nicht einschlafen.
(Save Me Now / Ronny Jensen, Ryan Kinder, Tines)
 
"Meine Lieblingsalben hatten am Ende immer eine warme klangliche Umarmung, die alles schön zusammenfasst," sagt Ryan Kinder auf threads.com über den letzten Song auf dem Album. "Ich hoffe, das ist uns mit 'Winter' auch gelungen." Es ist ein Lied über den hoffnungsvollen Übergang vom Alten zum Neuen, so wie der Winter aus dem alten Jahr ein neues macht.
 
 

Im Back Porch Sippin' Podcast vom 4. September 2024 bezeichnet Ryan Kinder seine Musik als Soul Country. Aber am Ende kommt es wohl nicht so sehr auf die Bezeichnung an, sondern vielmehr auf die Erkenntnis, dass "Heirloom" mit großer Wahrscheinlichkeit das beste Album aus 2024 ist, von dem man am wenigsten gehört hat.

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